Alles braucht seine Zeit
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Alles braucht seine Zeit – Künstlerisches Gestalten und die Geduld

Text © Uschi Erlewein

Aktualisiert: 1. August 2021


Manchmal gehört viel Geduld zum künstlerischen Arbeiten. Es ist wie bei einem guten Wein, der seine Zeit braucht, um zu reifen. Sowohl dein Projekt, als auch du selber als Künstlerin, entwickeln sich weiter – doch manchmal nicht so schnell, wie du dirs wünschst.

Oft frage ich mich, ob der Drang sich künstlerisch auszudrücken, daher kommt, damit wir verstehen, wer wir sind. Gestalten wir, um uns selber zu entfalten? So was gelingt nicht von Heute auf Morgen und ist eigentlich eine Aufgabe fürs ganze Leben.

Ist halt so: Alles braucht seine Zeit.

Klar, so eine Aussage klingt anachronistisch – leben wir doch in einer Zeit von effektivem Zeitmanagement und Multitasking. „Zeit ist Geld“ dominiert unser Leben.

Immer mehr, immer schneller, immer höher.

Was dabei auf der Strecke bleibt, ist das Leben.

Erst gestern sagte wieder jemand, „Die Zeit vergeht immer schneller! Je älter du wirst, desto schneller vergeht sie.“

Doch macht es uns glücklich, dass wir uns keine Zeit nehmen und nicht mehr dem Leben zuhören? Zu viele Menschen kenne ich, die diesem Zeitdruck nicht mehr standhalten können, die mit Burn-out kämpfen. Schnellschnell macht krank.

Zeit für Entschleunigung & Geduld

Um gesund zu bleiben, brauchen wir einen Gegenpol zu all unseren Aktivitäten. Es ist wichtig, dass wir uns viele Gelegenheiten geben, in denen wir loslassen und entschleunigen können.

Gerade die Kunst kann dafür Freiräume und Situationen schaffen, in denen sich das Leben entfalten kann.

Dabei ist es egal, ob du selber „aktiv“ etwas künstlerisch gestaltest oder „passiv“ die Kunst von anderen erlebst.

Kunst kann uns daran erinnern, dass es auch in unsrer modernen Zeit Orte der Zeitlosigkeit gibt.

Die Geduld und Hingabe, mit der ein Werk entsteht, ist für die Betrachter spürbar. Geduld hat ja verwandt mit: dulden, zulassen, geschehen lassen, Ruhe und Gelassenheit.

Geduld ist die Medizin der Welt.

Sprichwort der Hausa aus West-Zentralafrika

Beim künstlerischen Schaffen tauchst du tief ein ins Tun, bestenfalls vergißt du dabei die Zeit. Genau diese ruhige, konzentrierte Stimmung springt auf die Zuschauer über; ganz unmittelbar. Das habe ich schon so oft erlebt, in meinen Erzählaufführungen bin ich stets auf der Suche nach Zeitlosigkeit. Wenn mir dann mein Publikum sagt, „Das war Entschleunigung pur!“ weiß ich, dass meine Konzentration übergesprungen ist.

Zwei Filzerinnen walken ein grosses, rotes Stück Filz für eine Jurte - Beitragsfoto: Alles braucht seine Zeit

Gut Ding braucht Weile, lass die Dinge sich entwickeln

Geduld und Hingabe brauchst du, wenn du Künstler, Bildhauerin, Schriftsteller bist oder Märchenerzählerin werden willst.

Jeder hat mal klein angefangen; ich zum Beispiel als Baby.

Heinz Erhardt

Anfangs bist du ein No-Name, bist unbekannt und musst dir eine gewisse Bekanntheit erarbeiten. Da darfst du deine Langzeitperspektive nicht verlieren und mußt immer wieder ins Tun kommen.

Meistens braucht es eine Weile, bis du an dem Punkt bist, wo du hin willst. Diesen Entwicklungsprozess kannst du nicht überspringen.

Das Gras wächst nicht schneller, wenn du daran ziehst.

Dem Kirschbaum kannst du auch nicht im Februar befehlen, dass er im März Früchte tragen soll. Die Natur lässt uns warten, bis die Zeit reif ist.

Lies dazu auch: Märchen erzählen ist keine Instantsuppe

Alles entwickelt sich organisch

Zum Beispiel habe ich eine zeitlang für meine schwäbische Geschichten nur selten Aufträge bekommen. Es sah so aus, als ob sich niemand dafür interessiert. Doch plötzlich war es, als ob ein Knoten aufging und alle wollten nur noch dieses Erzählprogramm buchen.

Wenn ich eine Geschichte neu ins Repertoire nehmen möchte, geht es mal schnell – mal dauert es Monate, ja sogar Jahre, bis die Geschichte reif ist fürs Publikum ist. Erstmal muss ich immer eine gewisse Zeit mit den Geschichten leben, sie wachsen lassen, wie eine Pflanze. Sie brauchen meine Aufmerksamkeit, ich muss mich um sie kümmern, sie giessen, stützen, düngen.

Alles braucht seine Zeit, seltsam aber wahr!

Schreibe ich für Ethnostories einen neuen Blogbeitrag, will ich nicht schnell was zusammen schreiben. Sondern in die Tiefe gehen, das Thema von verschiedenen Winkeln aus betrachten, bis der Text ausgereift ist. Etwas schreiben, das meinen Lesern was bringt.

Alles braucht seine Zeit, wenn es gelingen soll

Obwohl ich regelmäßig jeden Tag schreibe, veröffentliche ich erst, wenn ich das Gefühl habe, jetzt ist es reif für die Öffentlichkeit.

Oft schreibe ich einen Text zigmal, ganz verschieden. Häufig entschliesse ich mich dann doch dazu, auszusortieren, einen ganzen Teil zu streichen und viele Worte nicht auszusprechen, sondern sie als Negativraum wirken zu lassen.

Diese Grundgedanken begleiten mich dabei:

Gestalte und suche geduldig nach Qualität.

Mit Geduld und Arbeit, kommst du auch zu einem guten Ergebnis.

Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass ich keine Angst haben muss, wenn ich etwas verwerfe, ausschneide oder kürze. Neue Ideen finden sich immer – allerdings nur, wenn ich dranbleibe.

Welche Geduld, welche Zärtlichkeit verlangt die Kunst! Nichts ohne Arbeit!

Auguste Rodin
Zwei Filzerinnen walken ein grosses, rotes Stück Filz für eine Jurte - Beitragsfoto: Alles braucht seine Zeit

Meine Vorbilder an Geduld: Die beharrlichen Filzerinnen aus Kirgistan

Für diesen Blogbeitrag habe ich wieder meine Fotos durchforstet, um was passendes zu finden. Wer wäre ein besseres Beispiel für Geduld, Beharrlichkeit und das Thema „Alles braucht seine Zeit“ als die Filzerinnen in Kirgistan!

Erst zupfen sie die Wolle und legen sie auf der Binsenmatte aus. Dann wird die Wolle mit Seifenwasser übersprüht, zusammen gerollt und zum Filz gewalkt. Dazu knien die Frauen auf dem Boden und rollen die feuchte Rolle unter ihren Unterarmen lange hin und her. Hin und her, hin und her. Bis die Wolle zu einer dicken Matte verfilzt ist.

All diese harte Arbeit, nur um die Matte anschliessend wieder in Stücke zu zerschneiden, die dann zu farbenfrohen Teppichen zusammen genäht werden. Dann gedoppelt mit einer einfarbigen Filzschicht, gesteppt und mit Kordeln verstärkt. Alles von Hand gemacht!

Einen Shyrdak zu machen ist ein langwieriger Prozess!

Viel Erfahrung, Zeit und Geduld braucht es, um die traditionellen kirgisischen Filzteppiche herzustellen.

Doch was für Kunstwerke entstehen dabei!!

Gut erzählt? Wie erkenne ich, ob eine Geschichte gut erzählt ist?

Geduld, Hingabe und Beharrlichkeit

Shyrdak, so heißen die Filzteppiche, die mit dieser Technik gemacht sind. Mit diesen Teppichen sind die Jurten ausgelegt, sie sind Schmuck für die Wände und gleichzeitig Isolierung. Man sitzt und schläft darauf.

Mütter machen sie für ihre Töchter, mit den Mustern nähen sie all ihre guten Wünsche für ein glückliches Leben hinein. Die Muster erzählen Geschichten vom Leben, vom grossen Wasser des Issyk Kul Sees, den grünen Bergen Kirgistans, von Fruchtbarkeit und der Liebe.

Schau selber, was für ein bunter Blumengarten aus Filz eine kirgisische Jurte schmückt. Wenn ich die Muster und Farben sehe, kann ich den Spuren des Lebens zuhören. Wenn ich über die gesteppte Oberfläche streiche, spüre ich die Sorgfalt und Liebe, die in wochenlanger Arbeit hineingeflossen ist.

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich auf solch einem Meisterwerk von Filzteppich, den ich von einer Reise aus Kirgistan mitgebracht habe.

Hier sitze ich bei einer guten Tasse Tee und schreibe, entwickle neue Geschichten, lese und recherchiere.

Der Shyrdak ist mein fliegender Teppich in die Welt der Worte und Geschichten …

und ich denke an die Filzerinnen, die mir ein grosses Vorbild und Inspiration sind:

für Geduld, Hingabe und Beharrlichkeit.

Einen Blog starten und bloggen, hast du mir Tipps für den Anfang?
Wer schreibt hier:

Ich bin Uschi Erlewein und blogge hier über das Leben als freischaffende Künstlerin. Ansonsten bin ich hauptberufliche Erzählerin und habe mich auf Weltgeschichten aus fernen Ländern spezialisiert. Um die Geschichten gut erzählen zu können, reise ich auch schon mal in die Mongolei, aufs Dach der Welt, nach Kirgistan, Bali oder zu indianischen Erzählern.