Irgendwann kommst du als Erzählerin an den Punkt, dass du eine Geschichte erzählen und in die Öffentlichkeit entlassen willst.
Erst durch die Augen und Ohren deines Publikums wirst du sie als Ganzes erleben können.
Wann dieser Moment gekommen ist, an dem du den Schritt in die Öffentlichkeit machst, hängt sehr vom Mut und deiner Abenteuerlust ab.
Der Sprung ins kalte Wasser
Fürs Erzählen machst du dich in der Regel erstmal auf die Suche nach einer Geschichte, dann wählst du eine Geschichte aus und lernst sie. Das alles machst du für dich alleine.
Nach einiger Zeit heißts dann: Schuhe aus, rein ins kalte Wasser! Es bleibt dir nichts übrig, als an einem bestimmten Punkt den Schritt zu wagen: das erste Mal vor Publikum die Geschichte erzählen. Lampenfieber hin oder her.
Es ist immer ein Moment des Vertrauens.
Zum ersten Mal eine Geschichte erzählen
Manche Erzählerkollegen erzählen ihre neue Geschichten erst ein paar dutzend Mal einer Wand oder einem Baum, bevor sie vor ein richtiges Publikum treten.
Vielleicht fällt es dir leichter, zuerst für eine kleine Gruppe zu erzählen und erst mit steigender Erfahrung auch für einem grösseres Publikum.
Du kannst dir dazu ein Testpublikum aufbauen.
Du kannst zum Beispiel einer Gruppe von Kindern deine halbgebackenen Geschichten erzählen. Oder du hast einige Erzählerkollegen, eine Schulklasse oder einen Kindergarten, wo du regelmäßig Neues ausprobieren kannst.
Falls du professioneller ans Erzählen gehst, kennst du vielleicht einen Trainer aus einer Ausbildung oder einem Erzählworkshop, dem du vertraust. Wenn du ein hilfreichen Blick von Außen brauchst, dann bezahle für kompetente Regie oder Rückmeldung eines Coaches.
Du kannst die Reaktion der Zuschauer nicht voraussagen
Live Erzählen hat so viele unterschiedliche Elemente, die auf die Zuschauer wirken und ihre Reaktionen auslösen. Hier einige Beispiele:
- Deine Erzählweise und Präsenz.
- Beim ersten Auftritt mit einer neu erarbeiteten Geschichte, bist du vielleicht so aufgeregt, dass du sehr schnell erzählst.
- Es ist gut möglich, dass du angespannt bist und deine Stimme hat deshalb nicht die gewohnte Modulation.
- Ist der Aufbau der Geschichte stimmig in der Dynamik?
- Hast du schon die beste Form oder die richtigen Worte gefunden, damit die Zuschauer die Bilder der Geschichte erleben?
- Welche Wirkung hatte das Setting, die Situation, der Rahmen, in dem du die Aufführung gemacht hast?
- Passt diese Geschichte zu den anderen in deinem Programm?
- Was die Menschen vor deiner Aufführung erlebt haben, beeinflusst auch ihre Reaktion auf deine Erzählung.
- Vielleicht erzählst du die Geschichte für Kinder, obwohl sie viel interessanter für Erwachsene wäre?
- Gut möglich, dass ein spezielles Publikum schlichtweg nichts mit dem Thema deiner Geschichte anfangen kann. Eine andere Gruppe kann jedoch völlig anders reagieren.
Wie gesagt, die Reaktion des Publikums kannst du schwer voraussagen. Das musst du aushalten. Gib deshalb nicht auf und verurteile dich nicht.
Sei lieber aufmerksam und beobachte die Reaktionen der Zuschauer. Merke dir alles ganz genau, so dass du fürs nächste Mal einfach was ändern und verbessern kannst.
Lass dem Kritiker nicht zu viel Raum
Gerade wenn du ganz frisch eine Geschichte in die Öffentlichkeit entlassen hast, bist du sehr verletzlich. Sei vorsichtig!
In dir selber macht sich Unsicherheit breit, ob du auf dem richtigen Weg mit der Geschichte bist. Du fragst dich, ob du sie gut erzählst. Diese eigene Unsicherheit kann ganz schnell, durch Kritik von außen, in tiefen Zweifel umschlagen. Und dieser Zweifel kann dich kräftig blockieren.
Besonders wohlmeinende Kollegen können dich in der Situation mit Kritik, Tipps und Vorschlägen überhäufen.
Deshalb mein Rat:
Wenn du als Probepublikum eine Gruppe von Kolleginnen hast, dann vereinbart klare Spielregeln, dass ihr in einer sicheren Umgebung ausprobieren dürft. Die Zuschauer sind dabei wie ein Spiegel, ein Zeuge des Geschehens.
Doch geben sie keine Ratschläge oder Kommentare.
„Ich würde das so machen …“ gibt es nicht. Sondern die Gruppe schenkt dir ihre Aufmerksamkeit, ihren Fokus und den sicheren Raum zum Ausprobieren.
Hier darfst du Fehler machen oder etwas testen, das noch völlig unausgegoren ist.
Es gibt Erzähler, die empfehlen, dass du vor einem sehr kleinen Publikum beginnst und deine Geschichte als work-in-progress ankündigst, damit das Publikum keine zu hohen Erwartungen hat.
Ich würde dir das eher nicht empfehlen. Denn mit so einer Ankündigung sagst du indirekt, dass die Geschichte noch nicht gut ist. Es gibt dann immer einige Zuhörer, die sich zur Kritik „verpflichtet“ fühlen.
Wenn du dich also anfangs unsicher fühlst, ist es besser keine Kommentare von übereifrigen Kritikern abzubekommen. Schütze dich eher davor.
Abstand gewinnen
Nachdem du zum ersten Mal vor Publikum die Geschichte erzählt hast, lass diese Erfahrung sich erstmal setzen.
Wenn du nach einigen Tagen mit deinem Probepublikum sprichst, stelle ganz klare Fragen.
Bleib nicht zu vage und allgemein: „Wie hat es euch gefallen?“.
Frage konkreter, zum Beispiel: „Seid ihr in Gedanken abgeschweift? Wann? Wie lange? Welcher Teil der Geschichte ist am deutlichsten in Erinnerung geblieben? Warum?“.
Wenn du für Kinder erzählst, dann bitte sie ein Bild über die Geschichte zu malen. Das ist immer ein guter Aufhänger für ein anschliessendes Gespräch und die Bilder geben dir interessante Rückmeldungen.
Falls du einen Audiorecorder * mitlaufen lässt oder Videoaufnahmen machst, verkneif dir, sie sofort anzuschauen. Schau dir frühestens am nächsten Tag an, wie du erzählt hast. Oder warte dafür besser eine Woche!
Sobald etwas Zeitabstand dazwischen liegt, fallen dir nicht nur die Fehler auf, sondern du erkennst auch die guten Seiten.
Jede Geschichte braucht ihre Zeit der Reifung
Manche Geschichte braucht länger, bis sie bei den Zuschauern ankommt, manche ist schnell soweit. Es gibt keinen Weg daran vorbei vor Zuschauern diesen letzten Schritt der Erarbeitung zu machen.
Hab Geduld, verfeinere immer weiter.
Manchmal ist das schwer auszuhalten. Zum Beispiel, für mein Erzählprogramm „Coyote wandert“, habe ich bei einer Geschichte 2 Jahre wiederholten Erzählens gebraucht, bis sie soweit war, dass sie lebendig und lustig wurde.
Wie oft habe ich gedacht: „Ich schmeiss sie weg, ich nehm sie aus dem Repertoire!!“
Und heute ist sie eine meiner besten Geschichten …
Es war, wie wenn ein Steinbildhauer in einem Stein eine Skulptur erahnt. Nur für seine Augen ist sie erkennbar. Damit sie für alle sichtbar wird, braucht es Zeit, Arbeit und Erfahrung, bis all der überflüssige Stein weggeschlagen ist und nur noch die klare Form der Figur übrig bleibt.
Ich hatte von Anfang an geahnt, was in dieser Geschichte steckt. Doch brauchte es diese Zeit der Entwicklung.
Deshalb: Hab Geduld! Alles braucht seine Zeit.
Warte nicht, bis alles perfekt ist!
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