Es ist schon interessant, sobald du dich auf die Suche nach Märchen machst, geschieht etwas Besonderes. Beim Märchen suchen wirst du aktiv und kommst in Bewegung. Es ist, wie wenn du damit eine Tür öffnest und Neues auf dich zukommen kann.
Das Suchen nach Märchen führt dich immer weiter und tiefer in die Welt der Märchen hinein. Du lernst die Märchen besser kennen und das wirkt sich letztlich auf deine Erzählkunst aus.
Deshalb schreibe ich heute ein Plädoyer für die Suche nach Märchen.
Viel lesen, viel sehen, viel hören
Gerade sich aufmachen und nach Märchen suchen bedeutet ja auch, viel lesen, viel sehen und viel hören. Nimm dir Zeit dafür.
Es kann sein, du musst 50 Geschichten lesen, bis du eine findest, die zu dir spricht und die du erzählen möchtest. Du hast deine liebe Not mit der langen Suche und denkst, „Oh, ich Arme, das ist doch viel zu anstrengend und zeitaufwändig!“
Dann übersiehst du, wie viel du auf dem Weg der Suche gewinnst. Lernst. Erfährst.
Die Suche nach Märchen ist keine Zeitverschwendung
Die 49 verworfenen Geschichten hast du nicht umsonst gelesen.
Beim Märchen suchen bleibt ganz viel bei dir hängen. Wenn du so viel liest, verstehst du den Hintergrund eines Märchens und lernst seine Varianten kennen. Du verstehst, wie Geschichten aufgebaut sind. Bekommst ein Gespür für all die Erzähltraditionen.
Und zwar verstehst du es durchs Erleben und nicht nur durch das theoretische Erlernen.
All das wird immer auch bei deinem Erzählen mitklingen. Selbst wenn die eine Geschichte, die du ausgesucht hast, vordergründig gar nichts mit der ganzen Liste von 49 Geschichten zu tun hat, die du während der Suche gelesen hast.
Dein Erzählen wird reicher, vielfarbiger, bleibt nicht trocken und eingleisig.
Erzählen bedeutet nicht eine bestimmte Geschichte zu nehmen, sie möglichst Wort für Wort zu rekapitulieren. Bring die Geschichte zum schillern, bring sie zum Leben!
Und dazu musst du auch bereit sein, die Geschichte und ihr Umfeld kennen zu lernen.
Gib dem Zu-fall eine Chance
Wenn du dich auf den Weg machst, dann öffnest du dich auch, gehst wie ein Kind mit offenen Augen durch die Welt und erkennst, was es alles unter Sonne und Himmel gibt.
Du würdest dir viel verschenken, das dir auf dem Weg der Suche zu-fällt. Wie oft habe ich gerade auf so einer Suche die ganz besonderen Kostbarkeiten gefunden.
Und ich bin dazu nicht nur in die Bibliothek, sondern in manch fernes Land, tausende von Kilometer um die halbe Welt gefahren.
Und – Überraschung! – oft habe ich dann diese mir zugefallene Geschichte in mein Repertoire aufgenommen und letztlich gar nicht die alte, die ich ursprünglich suchte.
Das ist Leben. Voller Überraschungen. Du nimmst dir was vor, es kommt alles anders, als du erwartet hast. Und das ist gut so.
Zum Erzählen gehört auch das Märchen suchen
Wie willst du Erfahrungen in eine Erzählung hinein fliessen lassen, wenn du ausser den Worten und Symbolen, nicht viel über das Märchen weißt?
Beim Märchen suchen kannst du so vieles im Nebenbei finden.
Wenn du zum Beispiel von einem Erlebnis erzählst, dann ist auf der einen Seite deine Erzählung mit den Worten.
Auf der anderen Seite ist dein ganz direktes Erleben, mit all seinen Facetten: Geschmack, Duft, Farben, die Umgebung, das Wetter, Geräusche, dein Herzschlag, deine Befindlichkeit.
In deiner Erzählung berichtest du mit deinen Worten nur von einem ganz kleinen Teil. Doch all das andere, nicht in Worten ausgedrückte, schimmert in den Pausen zwischen deinen Worten hindurch. Da ist immer auch ganz viel ungesagtes dabei.
Genau das Ungesagte macht den Unterschied zwischen den Erzählern aus.
Jeder bringt andere Erlebnisse mit. Selbst wenn du ein Märchen wortgetreu Wort für Wort erzählst, wird deines ganz anders sein. Eben weil dein Leben beim Erzählen mit einfliesst und mit dem Märchen zusammenklingt.
Die Geschichte wird einzigartig durch all die Erfahrungen, die du auf dem Weg der Suche gemacht hast.
Dann sind da nicht nur die Worte des Märchens, sondern noch viel, viel mehr. Da ist dein Erfahrungsschatz, der durch deine Stimme, deine Augen schimmert. All der Reichtum, den deine inneren Bilder und Erfahrungen beim Erzählen ausstrahlen.
Die Suche bringt dir Tiefe und Kompetenz. Damit erschaffst du eine besondere Atmosphäre, die deine Zuhörer mit aufschnappen.
Suche und zähme sie
Schau gerade dieses Ringen um deine Geschichte macht sie dann so speziell und einzigartig. Der Kleine Prinz * würde sagen, „du musst sie zähmen … zähmen bedeutet, sich vertraut machen …“ und das braucht seine Zeit.
Nimm dir Zeit, es lohnt sich! Das will ich dir wirklich ans Herz legen.
Dein „Kino im Kopf“ kann entweder eine lineare Aneinanderreihung von Ereignissen sein. Oder wie ein bildgewaltiger Spielfilm, voller Poesie und Weite. Du hast die Wahl.
Ich für meinen Teil möchte gerade die Phase des Suchens nicht missen. In der Zeit der Suche, da finden mich die Geschichten. Nicht ich suche sie, sie finden mich.
Dazu muss ich mich allerdings auf die Suchen machen. Aktiv werden. Erst dann kann diese Magie geschehen, dass sich plötzlich alles zurecht rückt.
Lesetipp:
Johannes Merkel: Hören, Sehen, Staunen: Kulturgeschichte des mündlichen Erzählens * – Dieses Buch bietet einen grossartigen Überblick über die reiche Erzählkultur der Welt
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Foto:
Ballonfahrer, Streetart in einer Unterführung am Hafen, Konstanz, Germany (© Malerei: Kamiran Haji — Foto: Uschi Erlewein)
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