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Sind Märchen noch zeitgemäß? Die Dauerbrennerfrage

Text © Uschi Erlewein

Aktualisiert: 1. August 2021


Neulich bekam ich mal wieder eine dieser Emails, mit der Frage: „Sind Märchen noch zeitgemäß?“ Diese Frage ist ein echter Dauerbrenner und verfolgt mich nun schon seit Ende der 70er Jahre – sogar immer in der selben Wortwahl.

„Aha, da muss jemand in der Schule eine Hausarbeit schreiben …“, dachte ich.

Es ist ja auch fast wie in der Mode: die Pädagogik wärmt zur Zeit die Tendenzen der 70er Jahre auf. Alte Kinderbücher sollen umgeschrieben werden, weil sie Worte verwenden, die momentan nicht mehr politisch korrekt sind. Märchen sind „zu brutal“, werden als „Horrorszenario“ bezeichnet und Mythen als „Aberglauben“ abgestempelt.

Und das in Zeiten, in der die Realität mancher Kinder brutaler ist, als jedes Märchen.

Wie auch immer, das Thema beschäftigte mich weiter.


Im folgenden Text nutze ich den Begriff „Märchen“ im Sinne von: mære, mittelhochdeutsch „Kunde, Erzählung“.

Ich spreche also von Märchen als kurzer Prosaerzählung und meine damit nicht nur Grimms Märchen.

Geschichtenerzähler gab es zu allen Zeiten

Seit sich Menschen mit Bewegung und Sprache ausdrücken, gibt es auch Geschichten und es wird erzählt. Durch Geschichten erinnern und lernen wir. Geschichten und Erzählen sind so alt wie die Menschheit.

Es gab hoch entwickelte Kulturen, die das Rad nicht kannten. Doch gab es keine Kultur, in der keine Geschichten erzählt wurden.

Ursula Le Guin, Anthropologin

Geschichtenerzählen zieht sich durch alle Zeiten und Kulturen, von den klassischen Märchen & Mythen, zu Film, Social Media, über Politik bis zu Storytelling, Marketing und PR. Überall kann man erzählerische Strukturen erkennen und moderne Erzählungen entdecken. Oftmals sind das alte Märchen in modernem Gewand.

Wohin man schaut, ist das Leben von Geschichten durchdrungen. Und die sind nicht nur was für Kinder!

Zu fragen, ob Geschichtenerzählen und Märchen noch zeitgemäß sind, das ist, wie wenn man fragt: „Ist Kino / Facebook / Soap-operas / Bücher / Kommunikation … überhaupt noch zeitgemäß?“ Denn gerade diese Medien leben durch Geschichten und sind gespeist vom Erzählen.

Es ist, wie wenn man fragt „Ist Träumen noch zeitgemäß?“ Denn meinem Verständnis nach, sind Geschichten, Märchen, Mythen aus dem selben Stoff gemacht, wie waches Träumen. Märchen sind innere Bilder, sind Imaginationsreisen und etwas Ur-menschliches.

Geschichten, Erzählen & Zuhören sind ein Grundbedürfnis des Menschen.

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Die Welt besteht aus unendlich vielen Geschichten

In Mythen, Märchen, Geschichten und Legenden drücken sich Weltsicht und die Werte einer bestimmten Kultur aus. Sie spiegeln die Vielfalt der Welt und der Menschen wieder. Es ist mir ein echtes Anliegen gerade das in meinen Erzählprogrammen aus und über ferne Kulturen zu zeigen und für Kinder und Erwachsene erlebbar zu machen.

Geschichten verbinden Menschen und Kulturen, sie lassen einen die eigenen Werte erkennen. Sie helfen Respekt und Wertschätzung gegenüber anderen Sichtweisen zu entwickeln.

Es ist bereichernd und unterhaltsam fremde Lebensweisen durch Geschichten kennen zu lernen. Sie ermöglichen die Welt von einer anderen Perspektive zu erleben. Geschichten verbinden einen mit den eigenen Wurzeln und sie schaffen ein Gefühl für die eigene Identität.

Sind Märchen noch zeitgemäß? Die Dauerbrennerfrage

Märchen sind kulturelles Erbe

Märchen und Märchenerzählen sind Kulturgut – keine Frage. Sogar von hoher Stelle wird das so gesehen. Die UNESCO hat, seit Ende 2016, nun auch für Deutschland das Märchenerzählen in die Liste immaterieller Kulturgüter aufgenommen.

Sind Märchen noch zeitgemäß, diese Frage irritiert. Man fragt doch bei kulturellem Erbe nicht, ob es zeitgemäß ist. Zudem werden die Kontexte, in denen Märchen erzählt werden, sowieso immer wieder angepasst. Märchen sind so automatisch immer auch zeitgenössisch.

H.M. Fischer

Rechtfertigt Kulturgut jeden Inhalt?

Märchen sind Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Das beinhaltet sowohl Schönheit, Glück, Gerechtigkeit als auch Grausamkeiten, Krieg, Unglück. Märchen ermöglichen die Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Vergangenheit. In den alten Geschichten kann man Weisheiten entdecken, die Brücken zwischen den Jahrhunderten spannen. Märchen sind wie das Leben, Licht und Schatten liegen nahe beieinander.

Muss Kulturerbe political correct sein?

Bei manchen Märchen bin ich mir da nicht so sicher. Transportieren sie doch z.B. Erziehungsideale einer vergangenen Epoche, die fragwürdig sein können. Manche Märchen vermitteln durchaus Weltbilder, die nimmer zeitgemäß sind.

Bei aller Wertschätzung darf man auch nicht vergessen, dass Märchen oft von totalitären Regimen und Missionaren benutzt werden/wurden, um ihre Botschaften zu verbreiten. Es ist also gut, immer genau hinzuschauen und zu recherchieren, wer die Märchen aufgeschrieben hat. Und nicht alles, was in Büchern steht, unüberlegt für bare Münze zu nehmen.

Als Erzählerin kann ich Geschichten durch die Art, wie ich sie erzähle, in die Jetztzeit bringen. Dazu muss ich die Geschichten nicht total verändern, wie in den 70er Jahren z.B. alle Märchen der Brüder Grimm umgeschrieben und „gewaltfrei“ gemacht wurden.

Oft kommt es auch auf den Kontext an, in denen ich sie erzähle. Oder ich kann als beim Erzählen klar Stellung beziehen. Das wird oft vergessen, dass genau das auch in der Freiheit und Verantwortung der Märchenerzähler liegt.

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Nostalgie nach der „guten alten Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat“

In der heutigen Zeit mit Fernsehen, Internet, Facebook, Radio, Videospielen, könnte man meinen, das Märchen erzählen und Vorlesen von Märchen wäre aus der Mode gekommen. Und selbst für Kinder uninteressant geworden.

Wenn ich aber bei meinen Aufführungen in die Gesichter von Kindern und Erwachsenen schaue, sie so ganz mitgerissen beim Zuhören sehe, spricht das eine ganz andere Sprache.

Viele Profierzähler machen die Erfahrung, dass das Publikum Märchen im alten Stil besonders mag. Vielleicht aus Erinnerung an die eigene Kindheit, die ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit vermittelt. Diese Sehnsucht nach der Heilen Welt, in der alles seine Ordnung hat, in der es klar ist, wer gut oder schlecht ist.

Meine Oma war eine Erzählerin. Als ich zu ihren Füssen saß, ergriff ich jede Geschichte und wickelte mich hinein. Wie in eine schöne, warme Decke, die mein Leben mit dem Leben meiner Oma für immer verband.

Wie Musik, sind Geschichten zeitlos. Auch in ihrer originalen, traditionellen, überlieferten Form. Sie müsssen nicht geändert werden, dass sie aktuell und heutzutage relevant werden. Auch wenn es so manche gut modernisierte Version von Märchen gibt.

Märchen sind zeitlos. Egal wie alt sie sind, durch das Erzählen landen sie in der Gegenwart.

Sind Märchen noch zeitgemäß? Die Dauerbrennerfrage

Zu Märchen gehört immer auch das Erzählen

Märchen sind mündliche Literatur, erst seit kurzem sind sie aufgeschrieben. Erst ein Erzähler macht sie durchs Erzählen lebendig.

Es geht also nicht bloß um den Inhalt der Märchen, sondern auch um das Erzählen, um das Zuhören, Imaginieren und Beisammensein. Erzählen ist immer auch Kommunikation und Gemeinschaft.

Erzählen ist mehr als Nachplappern eines Textes.

Sobald ich ein Märchen erzähle, ist da nicht nur das Märchen. Sondern da sind nun drei: das Märchen, die Erzählerin und die Zuhörer. Es entsteht immer ein Dialog zwischen Erzähler, Publikum und Märchen.

Beim Erzählen – und auch beim Vorlesen – ist immer ein Mensch da, mit dem man sprechen, durch den das Märchen vermittelt wird und den man fragen kann. Durch diesen direkten menschlichen Kontakt zur Erzählerin werden Inhalte aufgefangen, verarbeitet und gelernt. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu TV, Computer oder Video.

Keine Frage, Erzählen ist ein Grundbedürfnis des Menschen.

Dabei werden Erwachsene zu Kindern und Kinder zu Erwachsenen.

Das erlebe ich bei meinen Auftritten immer wieder.

Sind Märchen noch zeitgemäß ? Mein Fazit

Die alten Geschichten sind heute wahrscheinlich genauso viel und genauso wenig zeitgemäß, wie in alten Zeiten – zu Lebzeiten der Brüder Grimm oder noch weiter zurück.

Sie sind so zeitgemäß, wie die Erzählerin die Märchen erzählt.

Erzähler haben die Aufgabe eine Brücke zu der jeweiligen Geschichte zu schlagen. Denn es kommt immer drauf an, was man draus macht und in welcher Haltung erzählt wird.

Wir müssen nicht alles, was alt und traditionell ist, wegschmeissen. Wir können auch den Reichtum an Erfahrung erkennen, daraus lernen und alles als Basis neuer Entwicklungen nützen.

Ja, ich denke, dass Märchen noch zeitgemäß sind. Sie sind weder überholt noch altmodisch – und vielleicht wichtiger denn je!

Epilog – Nachwort

Ja, und wenn du noch immer unsicher bist, ob Märchen noch zeitgemäß sind, dann schau doch mal auf youtube nach der Marmeladenoma. Eine 85-jährige liest online, im Livestream jeden Freitag um 20:00 Märchen vor. Ihre Videos haben mittlerweile unglaublich viele Fans und Follower. Sowohl in der Gaming-Community als auch auf youtube.

Das zeigt mir mal wieder, dass Märchen noch immer aktuell sind. Und zwar unabhängig vom Alter, ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene.

Vielleicht ist nur die Art der Vermittlung von Märchen im Märchenkreis nicht mehr zeitgemäß und mehr Erzähler sollten neue Wege suchen?

Doch das ist eine andere Geschichte …

Noch ein Wort an die Dozenten von Erzieherausbildungen

Seit Jahrzehnten stellen mir immer wieder zukünftige Erzieherinnen die selbe Frage, „Sind Märchen noch zeitgemäß?“ Das scheint ja in der Erzieherausbildung eine Standartfrage zu sein. Nachdem die UNESCO das Märchenerzählen nun auch für Deutschland als Kulturgut anerkannte, wäre es an der Zeit zu überdenken, ob diese Frage überhaupt noch zeitgemäß ist.

Liebe Dozenten, mir scheint, Sie sollten sich mal neue Fragen ausdenken. Auch differenzierter fragen, zum Beispiel: „Sind die Erziehungsideale in den Grimms Märchen noch zeitgemäß?“ oder „Wie kann ich altes Kulturgut auf eine zeitgemäße Weise vermitteln?“

Lesetipp:

Johannes Merkel: Hören, Sehen, Staunen: Kulturgeschichte des mündlichen Erzählens * – Dieses Buch bietet einen grossartigen Überblick über die reiche Erzählkultur der Welt

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Wer schreibt hier:

Ich bin Uschi Erlewein und blogge hier über das Leben als freischaffende Künstlerin. Ansonsten bin ich hauptberufliche Erzählerin und habe mich auf Weltgeschichten aus fernen Ländern spezialisiert. Um die Geschichten gut erzählen zu können, reise ich auch schon mal in die Mongolei, aufs Dach der Welt, nach Kirgistan, Bali oder zu indianischen Erzählern.