Als hauptberufliche Erzählerin interessiere ich mich sehr für Erzähltraditionen der Welt. So sammeln sich in meinem Repertoire viele außereuropäische Märchen und selten gehörte Mythen, die ich u.a. seit 2004 im Völkerkundemuseum (Linden-Museum, Stuttgart) erzähle. Sind diese Märchen und Mythen Aberglaube? Mit dieser Frage werde ich in letzter Zeit immer wieder konfrontiert.
Häufig werde ich von Kirchengemeinden engagiert, um dort Schöpfungslegenden aus anderen Kulturen zu erzählen.
Doch seit einiger Zeit beobachte ich bei Veranstaltern, die mich engagieren wollen, vermehrt Vorbehalte gegenüber meinem Repertoire von traditionellen Geschichten aus anderen Kulturen.
In letzter Zeit hörte ich zum Beispiel:
Ein Pfarrer:
„Ist schon komisch, dass ich von der Kanzel herunter Geschichten von Schamanen ankündigen muss …„
Vor einer Familienfeier:
„… es sollen keine Schöpfungslegenden sein, die unsere Kinder in ihrer religiösen Erziehung durcheinander bringen …“
„Ich will keine Märchen mit Geistern, Naturreligion und so was …“
„Was interessiert Sie denn von meinem Repertoire?“
„Na, was bodenständiges.“
„Was verstehen Sie denn unter bodenständig? Könnten Sie mir das bitte näher erklären?“
„Bodenständig, deutsches eben.“
„Grimms Märchen?“
„Ja, die wären in Ordnung.“
Sind traditionelle Geschichten aus anderen Erzählkulturen ein Angriff auf die christliche Religion? Sind sie Aberglaube?
Was ist Aberglaube?
„Irrig angesehener Glaube an die Wirksamkeit übernatürlicher Kräfte in bestimmten Menschen und Dingen“ (Zitiert von http://www.duden.de/rechtschreibung/Aberglaube Zugriff am 25.04.2014)
Als Synonyme werden im Duden u.a. angeführt: „Geisterglaube, Gespensterglaube, Wunderglaube, Irrglaube, Superstitio, Afterglaube, Volksglaube„
Der Aufruf zur Blogparade zum Thema „Aberglauben“ ließ mich gleich an die oben erwähnten Gespräche denken. Denn offenbar scheint es für manche Zeitgenossen eine direkte Verbindung zwischen den Märchen und des Aberglaubens zu geben.
Je länger ich an diesem Artikel schreibe und mir Gedanken dazu mache, desto mehr wächst meine Abneigung gegen den Begriff „Aberglaube„.
Mich stört vor allem der Versuch durch Abwertung (Afterglauben) alle gleich zu schalten. Aberglaube steht konträr zum vorherrschenden Glauben einer Gesellschaft.
• Vorherrschender Glaube ist „richtig“
• Anderer Glaube ist rückständig, falsch, veraltet, also Afterglaube oder Aberglaube.
Märchen und Glaube
Ich sehe beim Umgang mit Märchen durchaus einen Bezug zum Glauben, zur Religion. Es gibt eine grosse Zahl von Märchenliebhabern und Märchenerzählerinnen, die eine tiefe Verehrung für Märchen empfinden. Eine Verehrung, die oft ans religiöse grenzt.
Märchen werden z.B. häufig von der Esoterikszene vereinnahmt und vermarktet. Oft werden sie als ultimative universale Wahrheiten gesehen. Jedes noch so kleinste Element des Märchens wird symbolisch gedeutet und auf die psychologische oder spirituelle Ebene gehoben.
Auch beim Begriff „Märchen“ gibt es Gegensätzlichkeiten. Die Meinungen gehen auseinander:
• Märchen sind universale Wahrheit: „Märchenhaft“ bedeutet so viel wie „wunderbar, unglaublich schön, traumhaft, fantasievoll„.
• Märchen sind Lüge, Fantasie: „Einer erzählt Märchen„, dann soll das heißen, dass er lügt oder übertreibt. „Erzähl doch keine Märchen!“ In Zeitungen nutzt man gerne den Begriff „Märchen“ in Schlagzeilen über Politik.
Wie im „Aberglauben“ zeigt sich in Mythen, Märchen und Legenden vieles, das nicht dem vorherrschenden Glauben unserer Gesellschaft entspricht. Spuren von Volksglauben, uralter Traditionen und Bräuchen kann man erkennen. Wie Märchen die Welt und Natur erklären, entspricht nicht gerade der heutigen Wissenschaft.
Lies auch: Die Dauerbrennerfrage: Sind heutzutage Märchen noch zeitgemäß?
Grimms Märchen und die Religion
Seltsamerweise wurden in den eingangs erwähnten Gesprächen mit meinen Veranstaltern die Märchen der Brüder Grimm ausgeklammert.
Grimms Märchen mit ihren Hexen, Zwergen und so manchen vorchristlichen Elementen scheinen weniger bedrohlich als Geschichten aus anderen Kulturen. Offenbar hat man sich an die Reste von „Aberglaube“ in Grimmsmärchen gewöhnt und lebt damit – wie mit dem, ursprünglich „heidnischen“, Weihnachtsbaum.
Fremdes macht Angst
Märchen aus anderen Kulturen werden anders bewertet, bei Vertrautem werden alle Hühneraugen zugedrückt.
Sicherlich spielt dabei eine Rolle, dass die Brüder Grimm die einzelnen Märchen mit christlichen Moralvorstellungen versehen haben. Die Brüder Grimm empfanden ihre Arbeit als religiösen und erzieherischen Auftrag. Sie stammten aus einem evangelischen Elternhaus: sowohl Großvater und Urgroßvater waren Pfarrer in reformierten Gemeinden.
Die Märchen der Brüder Grimm und die Luther-Bibel sind die bekanntesten Bücher der deutschen Kulturgeschichte. Grimms Märchen sind übersetzt in rund 160 Sprachen und weltweit verbreitet.
Bei meinen Recherchen fällt mir immer wieder auf, dass in Ländern, in denen lange und massiv missioniert wurde, Grimms Märchen weit verbreitet sind und sich in das Erzählerbe der Region tief eingegraben haben.
Die Bibel in der einen und die Hausmärchen der Brüder Grimm in der anderen Hand? Kam es so zu dieser weltweiten Bekanntheit dieser Märchen?
Zensierte Erzähler
Mir bereitet diese Angst vor dem Fremden Sorge.
Das Ganze erinnert mich an die Situation, der viele meiner KollegINNen in USA konfrontiert sind. Zum Beispiel kann eine Erzählerin nicht ohne weiteres traditionelle japanische Mythen erzählen, in denen Hexen oder Geister vorkommen.
Wenn sie in Schulen als professionelle Erzählerin auftreten will, muss sie ihr Geschichtenrepertoire einer Prüfungskommission vorliegen, die die Geschichten beurteilt und eventuell einiges zensiert. Die Kommission beurteilt Theaterstücke, so dass den Vorstellungen christlich-fundamentalistischer Gruppierungen Rechnung getragen wird.
Ich hoffe, dass diese neuerlichen Bedenken von Veranstaltern, die ich erlebe, kein Hinweis darauf sind, dass in Deutschland auch solche, alles Fremde ausgrenzenden, Tendenzen Auftrieb bekommen.
Märchen sind Kulturerbe
Ob Märchen Aberglaube sind oder nicht, ob altes Wissen, befremdlich, zeitgemäß oder angstbesetzt.
Eines ist sicher:
Märchen und Volkserzählungen sind Weltkulturerbe.
Nicht umsonst hat die UNESCO sie in die Liste des immateriellen Kulturguts aufgenommen.
Und es lohnt sich, über den Tellerrand zu schauen und sich mit dem Erzählerbe anderer Kulturen zu beschäftigen und von dem zu lernen, was andere Völker zu sagen haben.
Warum Angst vor dem Anderen und Fremden? Solange ich nichts darüber weiß, macht es Angst. Ich denke, gerade das Kennenlernen anderer Weltsichten ermöglicht, dass ich die Dinge erkennen kann, wie sie sind. Ich muss sie weder interpretieren, noch verurteilen. Nähere ich mich wertfrei an, dann irritiert es nicht mehr.
Natürlich zeigen sich der Glaube und die Weltsicht einer Kultur in ihrer Mythologie und ihren Märchen. Wie in deutschen Märchen christliche Elemente eingeflossen sind, findet man in anderen Kulturen eben den Einfluss dortiger Glaubensvorstellungen.
Wenn ich Geschichten und Märchen aus anderen Kulturen erzähle, dann vermitteln sich immer auch religiöse Werte und Bilder durch diese Märchen.
Wir können nicht davon ausgehen, dass alle Menschen dasselbe glauben – und das ist gut so. Menschen sind verschieden, jede Region der Welt hat ihre ureigenste Geschichte, die ihre Geschichten prägte, ihre Werte, ihren Glauben und Weltsicht. Das ist der wahre Reichtum der Welt.
Geschichten aus anderen Kulturen bereichern unser Verständnis der Welt. Sie lassen das Mensch-sein verstehen.
Lesetipp:
Dieter Harmening: Wörterbuch des Aberglaubens *
Johannes Merkel: Hören, Sehen, Staunen: Kulturgeschichte des mündlichen Erzählens * – Dieses Buch bietet einen grossartigen Überblick über die reiche Erzählkultur der Welt
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