Anfangs der 1980er Jahre reiste ich 3 Monate durch Indonesien. Ich wollte dort das Schattenspiel im Tempel erleben. 30 Jahre später führte mich das Leben wieder nach Bali. Vieles hatte sich verändert. Das Bali, das ich kannte, gehört nun der Vergangenheit an.
Heute weiß ich, dass diese Reise in die Welt des Schattentheaters meine künstlerische Arbeit wesentlich inspirierte. So krame ich meine Notizen und Erinnerungen von damals heraus und lasse die Zeit auf Bali nochmals aufleben.
Aus meinem Kopfkissenbuch
Bali 1983. Nur in der Hauptstadt gab es zu der Zeit elektrisches Licht und die erste und einzige Ampel der Insel.
Heute findet ein Schattenspiel im Tempel statt. Im Nachbardorf gibt es ein Tempelfest. Da müsst ihr hingehen, es ist nicht weit …
Nicht weit weg, bedeutet 2 Stunden Fußweg in dunkler Tropennacht. Auf schmalen Pfaden zwischen den Reisfeldern hindurch.
Ein Bemo (Sammeltaxi) zu finden war aussichtslos. Anfangs der 80er Jahre fuhren die nachts nur in Ausnahmen. Denn die Nacht war gefährlich und voller Dämonen.
Ihr müsst hinunter bis ans Ende des Reisfeldes gehen, dann links … 12 Kilo immer gerade aus … am Wald rechts, 2 Kilo weiter … dann rechts … links … links … rechts … 5 Kilo … dann …
Alle wollen helfen.
Jeder, gibt uns eine andere Wegbeschreibung.
Also los!
Grob in die Richtung.
Finden oder sich verlaufen, beides ist gut.
Immer dem Klang der tiefen großen Gongs nach.
Aufpassen, daß du auf dem schmalen glitschigen Steg nicht ins schlammige Wasser des Reisfeldes rutschst.
Ab und zu quakt eine Ente in den Feldern.
Das Himmelsgewölbe, sternenübersät. Noch war der Mond nicht aufgegangen.
Inmitten der Felder, ein Haus. Der helle Lichtkegel einer Kerosindrucklampe zerschneidet das Dunkel.
Beim Schattenspiel im Tempel irgendwo auf Bali
Im Tempel herrscht das pralle Leben.
Rechts sitzen die Brahmanen, die Priester, auf einer Plattform. Sie sprechen Gebete, führen Rituale.
Der Dalang, der Schattenspieler, bereitet sich fürs Spiel vor. Der Duft von Incense füllt die Nacht und trägt seine Gebete zum Himmel. In der Opferschale weiße, rote, blaue und grüne Blüten, glimmende Räucherstäbchen und Münzen.
Links steht die Schattenbühne. Der Schirm, die Leinwand, auf der die Schatten erscheinen, ist ein grosses weisses Tuch. Eingespannt in einen Rahmen aus Stämmen frischer Bananenstauden.
Der Dalang setzt sich hinter den Schirm auf den Boden. Links neben ihm steht die Kiste mit den Schattenfiguren.
Er sitzt mit überschlagenen Beinen, zwischen den Zehen des rechten Fußes klemmt ein Holzklöppel, mit dem er rhythmisch auf die Puppenkiste klopft. Holz auf Holz. Mit dem trockenen Ton akzentuiert er seine Erzählung und steigert die Dramatik des Schattenspiels.
Über dem Schattenspieler hängt eine grosse Öllampe und gibt das Licht für die Schattenfiguren. In ganz dramatischen Momenten lässt er die Öllampe hin und her pendeln. Die Schatten der Figuren beginnen dadurch anzuwachsen, werden kleiner, bewegen sich flackernd.
Frauen sitzen nur auf der Seite, wo die Schatten zu sehen sind. „Frauen sind der spirituellen Welt und der Welt der Schattenwesen näher …“, so wird mir erklärt.
Auf der Seite des Schirms, wo der Dalang und das Gamelanorchester spielen, dort können auch Männer sitzen und zuschauen. Sie können sowohl die materielle Seite, also die Figuren, das Spiel des Schattenspielers und den Schattenwurf auf der Leinwand sehen.
Das Schattenspiel beginnt
Der Klang der großen Gongs und Xylophone des Gamelan Orchesters füllen den Tempelbezirk. Die Musiker lassen ihre Klöppel aus Büffelhorn auf den Gongs und Metallplatten der Xylophone tanzen. Sie schaffen einen dynamischen Klangteppich, dessen Landschaft mich in die Welt der Schatten zieht.
Ein Hund läuft über die Bühne. Scheucht Hühner auf, die gackernd davon stieben.
Ein Motorradfahrer kreuzt zwischen den Zuschauern und der Bühne, fährt knatternd quer durch den Tempel hindurch.
Alle waren gekommen: vom Neugeborenen bis zum Greis, Arm und Reich. Festlich gekleidet im besten Sarong, Hüftschal und Kopfputz.
Die Zuschauer reden lautstark miteinander. Lachen.
Später in der Nacht schlafen viele. Die Frau, die neben mir sitzt, sinkt müde in sich zusammen. Kippt immer mehr in meine Richtung, bis ihr Kopf auf meiner Schulter ein Ruhepolster findet.
Kurz bevor die lustigen „Clowns“ im Spiel erscheinen, werden alle blitzwach und amüsieren sich über den Witz und Humor des Schattenspielers.
Manch einer klettert über die Sitznachbarn, um sich draußen an einem Warung, in den mobilen Garküchen, was zum essen zu holen.
Alles geschieht gleichzeitig. Beim Schattenspiel im Tempel herrscht keine andächtige Stille, man lebt dort. Mit allem, was zum Leben gehört.
Das Schattenspiel mit den Figuren ist virtuos. Und die Stimme des Dalang! Er wechselt zwischen erzählen, singen, rhythmischem Sprechgesang, gibt den verschiedenen Figuren charakteristische Stimmen. Verlebendigt die flachen Figuren aus Büffelleder. Der Schattenspieler gibt den Schatten eine Stimme. Gibt den Göttern, die in die Schatten einziehen, eine für uns Menschen hörbare Stimme.
Nicht er spielte. Es spielte durch ihn hindurch.
Die Aufführung dauert die ganze Nacht. Mit wenigen Unterbrechungen von 8 Uhr Abends bis gegen 6 Uhr früh, bis zur Morgendämmerung.
Mit Anbruch des Tages verflüchtigt sich die Welt der Schatten und die Materie der Welt drängt sich auf. Das Schattenspiel im Tempel ist zu Ende, das Fest löst sich auf. Der Alltag und die tägliche Arbeit ruft.
In den Strahlen der aufgehenden Sonne machen wir uns auf den Heimweg durch das saftige Grün der Reisfelder.
Die Nacht der Schatten klingt noch lange nach. Verstanden habe ich kein Wort. Doch erfasste alles, zwischen den Worten. Verstehen jenseits von Sprache.
Mein Lesetipp:
Java – Wayang Kulit, Göttliche Schatten * von Thomas Moog
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Andere Beiträge über das Schattenspiel:
- Reise in die Welt des Schattentheaters
- Was ist Kunst für mich – Wie Bali mein Künstlerleben beeinflusste
- Gedanken zum Schattenspiel: Zwischen Schein und Sein
- Von Drachengeschichten, Bären und kleinen Vergnügen
- Erinnern – Zeitreise in die Vergangenheit
- Die Sauna in Finnland und ihr Schutzgeist – Der Saunatonttu