Meine erste Fernreise ging Anfangs der 1980er Jahre nach Indonesien. Als junge Puppenspielerin wollte ich das Schattentheater auf der Insel Bali und vor allem das rituelle Schattenspiel im Tempel erleben.
Die Welt der Schatten war überall
Das Schattentheater war auf Bali überall präsent. Vor allem im Tempel und bei Familienfeiern. Die Welt des Schattentheaters war fester Bestandteil der religiösen Zeremonien. Noch waren auf der Insel sowohl Schattenspiel, als auch Tanz und Maskentheater wichtiger religiöser Teil des Alltags und eines jeden Tempelfests.
Auch im Fernsehen war Schattentheater regelmässig im Programm. Sogar die staatliche Kampagne für Geburtenkontrolle nutzte die Beliebtheit des Wayang Kulit, des Schattentheaters. Sie verbreitete mit entsprechenden Aufführungen ihre Botschaft der 2 – Kind – Ehe.
Veranstaltungskalender, Strassenkarten gab es damals so gut wie keine. Die paar, die wir in Bali fanden, waren oft handgezeichnet und bis zur Unlesbarkeit vervielfältig. Man musste herumfragen, um Informationen zu bekommen. Nur von Mund zu Mund erfuhren wir, ob und wo ein Schattenspiel stattfindet. Dann hieß es stundenlang in tiefster Tropennacht zu einem Tempel zu wandern.
Zu der Zeit war die Insel Bali in vielen Gebieten noch wenig touristisch. Noch gab es keinen grossen Flughafen oder grosse Hotels. Balis Touristen blieben hauptsächlich im Süden, in Sanur und Legian.
In anderen Gegenden der Insel lief das ganze Dorf zusammen, um uns Fremde zu bestaunen. „Hari, Hari ! Hell, Tag, Weiße !“ riefen die Kinder uns hinterher.
„Susu, Milch“ nannten sie mich und versuchten die weiße Farbe von meinem Arm zu wischen.
Damals erlebte ich viele verschiedene Schattenspieler bei Aufführungen im Tempel. Schattentheater speziell für Touristen gab es nur an ganz wenigen Orten.
Schon auf den ersten Blick war der Unterschied zwischen dem rituellen Schattentheater und den profanen Aufführungen für Touristen mehr als deutlich.
Veranstaltungen für Touristen dauerten höchstens 1 Stunde. Aufführungen im Tempel dauerten die ganze Nacht, vom frühen Abend bis zur Morgendämmerung.
Und welch ein Unterschied an Tiefe und Dichte der Aufführung!
Virtuose Schattenspieler auf Bali
Auf Bali sind Schattenspieler auch Priester. Sie sind hoch geachtete Erzähler, Rezitatoren, sie improvisieren, deklamieren, sind Percussionisten und dirigieren die Musiker. Vor allem sind sie Balis Spezialisten für Mythologie und Religion. Lange Jahre müssen sie dafür lernen. Viele Geschichten werden in alten Sprachen erzählt, die der Schattenspieler beherrscht – und die wenigsten im Publikum verstehen.
Indonesische Schattenspieler sind unglaublich geschickt in ihrem Spiel. Meist spielen sie gleichzeitig mit mehreren Figuren. In jeder Hand halten sie eine Figur. Die Führungsstäbe der Arme werden oftmals nur mit einem Finger bewegt. Manchmal wird die Schattenfigur in einen weichen Bananenstamm gesteckt, der den unteren Teil der Schattenbühne bildet. So kann der Schattenspieler mit seiner freien Hand die Stäbe für die Arm- und Handbewegungen bewegen.
Besonders Kampfszenen sind dramatisch. Die Armstäbe der Figuren werden dabei oft mit den Fingern geschnipst und dadurch herumgewirbelt. Im Schatten werden so die Haltestäbe zu Knüppeln und Waffen.
Für die Balinesen sind im Schattenspiel die Götter und Dämonen lebendig und anwesend. Ist im Kampf ein Gott gestorben, wird die Figur nach der Aufführung rituell wieder zum Leben erweckt. Damit alle Figuren bei der nächsten Aufführung wieder lebendig sind und mitspielen können.
Der Schattenspieler mit besonderen Kräften
Ich erinnere mich an einen Schattenspieler, von dem erzählt wurde, dass er besondere Kräfte hatte und er deshalb diese eine besondere Geschichte spielen konnte. Er war der Einzige auf der ganzen Insel, der dieser Geschichte gewachsen war. Eine Geschichte von der Hexe Rangda, voller Magie. Mit einem heftigen Kampf zwischen dunklen und lichten Kräften. Eine Erzählung voller Gefahr.
Um nicht durch die Geschichte Schaden zu nehmen oder Unglück über die Zuschauer und das Dorf zu bringen, musste der Schattenspieler ganz besondere Kräfte haben.
Schattenspiel ist nicht nur Unterhaltung und Theater, es ist magisches Ritual.
All das klingt für europäische Ohren vielleicht recht seltsam. Doch kann ich versichern, es war bei der Aufführung sehr wohl spürbar, mit welchen Kräften der Schattenspieler kämpfte.
Später erfuhr ich, dass er sich für diese Aufführung seit Tagen vorbereitet hatte. Meditation, Gebete, Opfergaben, spezielle Tabus und Diät gehörten zur Vorbereitung.
Schattentheater im Tageslicht
An eine ganz besondere rituelle Aufführung erinnere ich mich gut: Schattentheater im hellen Sonnenlicht!
Ich hatte das Glück und durfte in Pura Besakih, dem grössten und heiligsten Tempelbezirk Balis, in einem abgelegenen Tempel bei einem besonderen Ritual dabei sein: Wayang Lemah, Schattenspiel bei Tageslicht. Ein Schattenspieler erzählte und spielte seine Geschichten. Vor sich ein frischer Bananenstamm, darüber eine Schnur gespannt, die den Spielschirm repräsentierte.
Kein Zuschauer weit und breit. Das Schattenspiel war nicht für menschliche Zuschauer bestimmt, sondern für die, für unsere Augen unsichtbaren, Götter.
Schattentheater als Gebet und Opfer, zur Abwehr von Dämonen. Mit dem Schattenspiel weihte der Priester einen Krug Wasser. Es ist ein Ritual um Wasser heilig zu machen und in Weihwasser umzuwandeln.
Es ging nicht um eine Theateraufführung, um einen Auftritt in unserem Sinne. Sondern es war ein magisches Ritual. Es ging darum, dass die Geschichten geschehen durften und die Götter in die Schattenfiguren einziehen konnten.
Das Schattenspiel hilft die Harmonie zwischen Himmel und Erde zu bewahren.
Perfektion jenseits der Materie
Auf Java, Bali und Lombok erlebte ich Schattentheater, das wahrscheinlich für westliche Augen „technisch unperfekt“ war und sicherlich viele Regeln des westlichen Theaters nicht erfüllte.
Die Beleuchtung für das Schattenspiel war meist eine Mischung aus grellem Licht der Kerosindrucklampen und dem sanften Gelb von Öllampen. An einem Ort in Denpasar gab es schon Strom, da hing eine Neonröhre schräg von der Decke, mit Schnur befestigt. Zu der Bühnenbeleuchtung hätte in Deutschland ein Theatertechniker nur ein „geht gar nicht“ hervor gebracht …
Es war gut zu sehen, dass hier andere Maßstäbe gelten. Offensichtlich ging es nicht um die perfekte Multimedia-Show. Theater war in Bali Dienst an der Gemeinschaft und gelebte Spiritualität.
Sprung in die Welt des Schattentheaters
Was gespielt wurde? Meistens Ausschnitte aus dem Mahabharata oder dem Ramayana*.
Verstanden habe ich so gut wie nichts.
Allerdings, sobald die Aufführung begann, war ich völlig hingerissen.
Mitgenommen in diese wundersame Welt des Schattentheaters, die sich auf der Bühne entfaltete.
Mein Kopf war ausgeschaltet.
Tief drinnen er-lebte ich etwas, das ich vom westlichen Theater nicht kannte.
Etwas, das tief berührt.
Da war dieses Andere, Ungreifbare, das so erschütternd und heilsam war.
Das alles, was ich bisher im Theater erlebt hatte, sprichwörtlich in den Schatten stellte.
Foto:
Blick in die Puppenkiste eines balinesischen Schattenspielers. Links im Bild steht der Korb mit den Opfergaben, rechts liegen unzählige Schattenfiguren übereinander. Die Figuren sind aus Leder geschnitten und bunt bemalt. Die Haltestäbe sind aus Büffelhorn geschnitzt. Beim Spiel sitzt ein Helfer neben der Kiste und reicht dem Schattenspieler die Figuren zu.
Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich
Während ich den Beitrag hier schreibe wechsle ich ständig zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Was war und was ist? Das vermischt sich nicht nur in meinen Sätzen.
Manches von dem, von dem ich hier berichte, kannst du noch heute, im Verborgenen, in Bali finden. Auch sind mir viele Erlebnisse noch ganz gegenwärtig und fliessen in meine künstlerische Arbeit ein.
Seit ich 2014 wieder auf der Insel Bali war, weiß ich allerdings auch, dass vieles, was ich damals vor mehr als 30 Jahren erlebte, auch auf Bali der Vergangenheit angehört. Trotzdem schwingt noch vieles der Vergangenheit in der Gegenwart weiter.
Wer weiß, vielleicht ist gerade das der Grund, weshalb Bali so viele Menschen aus der ganzen Welt anzieht? Bist du auch einer von denen, die von einer Reise nach Bali träumen? Oder warst du schon dort auf der Insel? Hast du auch das balinesische Schattentheater erlebt?
Lesetipp:
Claudia Schmölders (Übersetzer):
Ramayana: Die Geschichte vom Prinzen Rama, der schönen Sita und dem Grossen Affen Hanuman * Das Ramayana ist das erste und größte indische Märchenepos.
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In meinem Erzählprogramm „Von Drachen und Unsterblichen – Mythische Erzählreise nach Vietnam und Südostasien“ kannst du aus Bali eine Geschichte über das Schattenspiel hören und in Gedanken nach Bali reisen. Ich bin mobil, du kannst mich für Veranstaltungen buchen ! Mehr Informationen dazu: Von Drachengeschichten, Bären und kleinen Vergnügen
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