Wo immer ich bin, beobachte ich alles um mich herum. Etwas fürs Erzählen lernen kann ich überall. Ich sammle fürs Momente, Geschichten, Eindrücke, Bewegungen und Worte. Manchmal reise ich dazu weit weg, in den Himalaya, nach Bali oder bin unterwegs in der Mongolei. Oder ich suche in der Nähe nach interessanten Orten. Dort finde ich Anregungen für meine künstlerische Arbeit.
Vor einiger Zeit stand ich in der Wagnerwerkstatt im Freilichtmuseum Neuhausen ob Eck. Werkzeugkästen hängen an der Wand, übersichtlich sortierte Schnitzeisen neben den gestapelten Holzstücken. Auf der Werkbank liegen die Dinge bereit, die der Wagner immer wieder in die Hand nehmen muss und öfters braucht.
Der Geruch von Leim und Harz trägt mich in meine eigene Kindheit zurück. Ich bin in Gedanken wieder mit meinem Opa beim Wagner und beobachte wie der Meister gekonnt und schwerelos mit dem Ziehmesser umgeht. Hobelspäne ringeln sich vom Holz. Der Wagner macht mir aus Eschenholz einen Hackenstiel, der wie angegossen in meiner Kinderhand liegt.
Wieso ist es eigentlich so interessant, Menschen zu beobachten?
Was treibt einen dazu, im Strassencafé zu sitzen und die Leute zu beobachten, wie sie ihre alltäglichen Dinge machen?
Ich denke, es liegt daran, weil es unsere Aufmerksamkeit anzieht, wenn jemand so ganz präsent ist in dem, was er tut.
Aus dem Grund faszinieren auch Handwerker bei der Arbeit. Wie oft komme ich an einer Baustelle vorbei und Leute stehen am Bauzaun und schauen zu. Stundenlang.
Oder beim Kunsthandwerkermarkt umringen sie den Töpfer, der an der Scheibe sitzt und Schalen dreht.
Alles scheint so mühelos und einfach. Keine Bewegung ist unnötig oder gar von Eitelkeit getrieben.
Der Handwerker macht das, was notwendig ist. Er ist so fokussiert und zentriert bei der Arbeit. Sein ganzer Körper ist dabei. Da macht es auch nichts aus, wenn er dabei mit jemanden redet. Denn ein Großteil der Konzentration bleibt immer beim Werkstück.
Dieser Fokus und die Konzentration des Handwerkers steckt an, nimmt die Zuschauer mit. So sind sie bald genauso fokussiert auf das Werkstück, wie der Handwerker selbst.
Genau das suche ich auch auf der Bühne:
Tu was du tust, sei fokussiert.
Jedoch nicht privat und abgeschlossen,
sondern nimm das Publikum mit.
Was ich bei einem Wagner fürs Erzählen lernen konnte
Eine Großmutter kommt mit 2 Kindern in die Werkstatt. Der Wagner schneidet dem ca. 12 Jahre alten Mädchen zwei lange Spiralen vom Holz.
Die Begeisterung wächst, als er dem Mädchen das Ziehmesser in die Hand gibt:
„Jetzt probier du.“
Das Mädchen hackt mit dem Messer tief ins Holz. Hat nicht richtig hingeschaut. Sie hat nicht beobachtet, dass der Span nur entsteht, wenn das Messer flach über die Kante gezogen wird.
Die Großmutter kramt ihre Kamera aus der Tasche und fotografiert die Enkelin bei der Arbeit.
Das Mädchen schwellt die Brust, posiert mit Schmollmundlächeln und Schmachtblick für die Kamera.
Tut so, als ob sie mit scharfem Werkzeug am Holz arbeitet. Verliert dabei völlig ihren Fokus auf das Holz.
Die nächste tiefe Kerbe entsteht.
Das ist wie auf der Bühne
Wenn sich zum Beispiel ein Erzählanfänger unsicher fühlt, dann braucht es nicht viel, dass sein Fokus aufs Erzählen zerbricht.
Oft reicht nur ein Gedanke:
„Wie geht es in der Geschichte weiter?“
„Mist, jetzt habe ich das Wort vergessen!“
„Oh, die in der zweiten Reihe guckt aber kritisch … Ich erzähle bestimmt schlecht …“
„Da kommt ja jemand zu spät …“
Und plumps ist die Geschichte in ihre Bestandteile zerbröselt.
Hat die Dynamik der Geschichte eine Kerbe bekommen.
Wie das Holz bei diesem Mädchen.
Was braucht es nun?
Das kannst du vom Wagner fürs Erzählen lernen:
- Einen ruhigen Schnitt mit dem Messer, um die Kerbe wieder auszugleichen
- Atme ruhig aus
- Nicht stoppen
- Mach weiter
- Bleibe im konzentrierten Fluss der Erzählung
- Sammle dich dabei
- Konzentriere dich
- Vor allem, ärgere dich nicht darüber, wenn etwas schief geht
- Das schafft noch mehr Kerben
- Sondern gehe ruhig dran und biege alles wieder gerade
Verhältnismässigkeit der Mittel
So selbstverständlich wie die Handwerker ihre Arbeit machen, das ist mein Ziel fürs Erzählen.
Ich suche stets nach diesem Ort, wo ich so präzise und präsent bin, ohne dabei viel Aufhebens zu machen. Wo ich in meiner Mitte ruhe und tu, was notwendig ist.
Mit so wenig Energie wie möglich und soviel wie nötig.
Kein Handwerker würde den Hammer mit mehr Kraft als nötig aufschlagen.
So ist es auch auf der Bühne. Wenn du mit zu viel Energie auf der Bühne bist oder zu eindringlich sprichst, dann lehnen sich die Zuschauer zurück und gehen innerlich auf Distanz.
Wenn du jedoch zu leise und kraftlos bist, dann wirst du dein Publikum nicht wirklich erreichen und es wird dir nicht zuhören. Mit zu wenig Kraft wird der Wagner nie eine Speiche in die Radnabe schlagen können.
Es geht immer drum, das richtige Maß zu finden.
Gelernt ist gelernt und Übung macht den Meister
Der Handwerksmeister bekommt kein Lampenfieber, wenn er an die Arbeit geht. Er kennt sich aus mit dem, was er tut. Auch wenn das Holz einmal anders reagiert als gewöhnlich, kann er sich auf die jeweilige Situation einstellen. Jede Handbewegung sitzt und stimmt. Gelernt und geübt über viele Jahre.
In der Lehrzeit übt er an einfacheren Teilen, erst wenn er schon einiges kann, wagt er sich an kompliziertere Werkstücke.
Auch beim Erzählen halte ich es so. Meine Erzählprogramme bereite ich vor der Premiere sehr gut vor und vertiefe mich in die Geschichten. Wenn du sowohl deine Geschichten kennst, als auch deine Körpersprache und Bewegung trainiert hast, kommst du an den Punkt, an dem du souverän mit deinem Können improvisieren kannst.
Nachruf an eine alte Kulturtechnik
Seit vor wohl 6000 Jahren das Rad erfunden wurde gab es Handwerker, die das Wissen um die Herstellung von Rädern weiter trugen.
Im Süden Deutschlands nennt man sie Wagner, im Norden Stellmacher, Rademacher oder Radmacher.
Noch im letzten Jahrhundert arbeitete in fast jedem Dorf ein Wagner. Er machte aus Holz Leitern, Karren, reparierte zerbrochenen Wagenräder, ersetzte zerbrochene Werkzeugstiele, baute Wäscheständer, Schubkarren und Schlitten. Auch Geräte für die Landwirtschaft, wie Heugabeln und Dreschflegel, Rechen, Pflüge, Eggen, Wagen und Karren stellte ein Wagner her.
Der Wagner sorgte für Mobilität im Leben der Menschen. Die Anfertigung von Wagen und Rädern war seine wichtigste und schwierigste Aufgabe, die viel Erfahrung, Geschick und Präzision erforderte.
Oft konnte der Wagner auch schmieden. Er machte die Beschläge für Räder oder die Metallachsen eines Leiterwagens selber her.
Esche, Buche, Eiche, das waren die Hölzer, die sie hauptsächlich verwendeten. Der Wagner erzählte mir, wie viele Holzmuster er gesammelt hat. Besonders stolz ist er darauf, dass er alle 90 Hölzer an Farbe, Maserung und Geruch erkennen kann. Selbst Holz von Efeu, Elsbeere und Flieder sind in seiner Sammlung.
Heute gilt das Wagnerhandwerk als ausgestorbener Beruf
Es ist schon lange kein Lehrberuf mehr. Leitern sind aus Aluminium, Axtstiele werden fabrikgefertigt im Baumarkt gekauft. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts haben Gummireifen die Holzräder verdrängt. Geräte, Autos, Traktoren, Anhänger werden nicht mehr aus Holz, sondern aus Eisen und Stahl gemacht.
Die alten Holzleiterwagen sind ausrangiert, stehen geranienbepflanzt als Deko in den Vorgärten. Und mit jedem Wagner, der stirbt, verliert die Welt das Wissen eines jahrtausende alten Handwerks …
Lesetipps:
- Die Letzten ihrer Zunft – Altes Handwerk und aussterbende Berufe in Franken *
- Alte Handwerkskunst (Aus Liebe zum Landleben) *
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Falls du gerne mal einem Wagner bei seiner Arbeit über die Schulter schauen willst, schau mal ins Programm der Bauern- oder Freilandmuseen. Ich habe Wagner zum Beispiel in Wackershofen (bei Schwäbisch Hall) oder Neuhausen ob Eck (bei Tuttlingen), Freilichtmuseum Hessenpark (bei Frankfurt) entdeckt.